Seit einiger Zeit rezensiere ich Bücher für den Niggemann Schachversand. Meist bekomme ich Eröffnungsbücher. Meine eigene Meinung dazu ist, dass Eröffnungsbücher meist zu schlecht sind, um eine Kaufempfehlung auszusprechen. Daher formuliere ich in den Rezensionen besonders achtsam.
Kürzlich bekam ich zwei Bücher zum Rezensieren. Eins davon ist außergewöhnlich schlecht, das andere ist außergewöhnlich gut. Ein hervorragender Einstieg für diese Beitragsreihe…
Mit größtem Respekt habe ich noch anzumerken, dass Niggemann konsequent ist und auch meine niederschmetternde Bewertung eisenhart veröffentlicht hat. Hier die Rezensionen:
The King´s Indian Attack move by move – Neil McDonald
Seit Jahren lästere ich mehr oder weniger offen über die Mittelmäßigkeit von Eröffnungsbüchern: Meistens gibt es keine Beschreibung, für welche Sorte Spieler die jeweilige Eröffnung ideal ist, keine übersichtliche Einleitung mit Beschreibung der Bauernstrukturen, keine oder viel zu wenig Erläuterung der typischen Pläne, kaum mal ein paar grundsätzliche hilfreiche Schachprinzipien. Stattdessen Analysen bis ins Endspiel hinein, obwohl die Endspiele nicht mehr typisch für die Eröffnung sind, wenig Informationsgehalt und langweilig geschrieben ist es oft auch noch. Englischsprachige Autoren haben bisher einen sehr geteilten Eindruck bei mir hinterlassen – Rowson, Nunn und Watson waren super, Collins war langweilig, aber gut, der Rest war schachlich mehr oder weniger mäßig. Vom Vielschreiber GM Neil McDonald kannte ich bisher nichts. Das scheint eine Bildungslücke gewesen zu sein.
Um es auf den Punkt zu bringen: Dieses Buch ist mit wirklich weitem Abstand das beste Eröffnungs(lehr)buch, das ich bisher in den Händen hielt. Warum?
– McDonald gliedert geschickt eine schwierige, weil weit verzweigte Eröffnungstheorie.
– Er liefert in jedem Kapitel die Erläuterungen zu frühen prinzipiellen Entscheidungen / unterschiedlichen Zügen. Er kommt dabei nah an die Übersichtlichkeit und Klarheit von Collins in dessen Tarrasch-Buch heran – mein Referenzwerk in Sachen Einleitung und Strukturdarstellung –, dafür hatte Collins auch die deutlich überschaubarere Theorie zu schultern.
– In jeder Partie beschreibt McDonald ausführlich, welchen Plan man bei welchem gegnerischen Aufbau wählen sollte und vor allen Dingen auch genauso ausführlich, warum. Damit bekommt man hervorragendes Rüstzeug, die Stellungen zu verstehen und gute Pläne zu finden, anstatt Züge auswendig lernen zu müssen. Diese Beschreibungen führen nebenbei auch dazu, dass man sein prinzipielles Verständnis für Planfindung in Eröffnungen verbessert. Damit gelingt die bis heute nur sehr selten gelungene Kombination der Vermittlung von Eröffnungswissen und prinzipiellem Schachwissen.
– Der Informationsgehalt ist umwerfend groß.
– Alles ist verständlich geschrieben. McDonald schreibt in sachlichem Stil. Nicht knochentrocken wie Collins und leider nicht so amüsant wie Lakdawala, aber wer schafft das schon?
Gleich am Anfang teilt McDonald dem Leser mit, für wen diese Eröffnung ideal ist: Für Spieler, die sich nicht vom ersten Zug an auf Komplikationen einlassen wollen, sondern sich erst in Ruhe entwickeln wollen. Es ist ein flexibles System – Verständnis geht folglich vor Lernen. Wer also Zeit hat, viel neueste Theorie zu büffeln, kann vielleicht mit aggressiveren Eröffnungen mehr Punkte durch Wissen einsammeln. Wer dafür nicht so viel Zeit oder Begabung hat und eher auf Schachverständnis setzt, ist mit dem königsindischen Angriff gut aufgestellt.
Die „move by move“ Struktur, in der ein imaginärer Schüler Fragen stellt, nutzt McDonald nicht so gut, wie andere seiner Autoren-Kollegen. Er braucht das aber auch nicht.
Wer meine Rezensionen zu Eröffnungsbüchern kennt und sorgfältig liest, weiß, dass ich einen hohen Anspruch an moderne Eröffnungsbücher habe und keineswegs dazu neige, Eröffnungsbücher zu loben. Dieses Buch ist wirklich großartig! Wer diese Eröffnung gut findet, sollte zuerst dieses Buch durcharbeiten und braucht danach wahrscheinlich nicht mehr viel Sekundärliteratur – im Gegensatz zu den meisten anderen Eröffnungsbüchern. Wer es noch nicht weiß, sollte mit diesem Buch anfangen. Falls die Eröffnung doch nichts für einen ist, lernt man immer noch mehr als in so manchen Lehrbüchern.
Es geht zwar noch besser. Viel besser geht es aber nicht.
Dennis Calder
Fide Instructor
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Damian Lemos – The Fianchetto System
Zunächst fragte ich mich: „Damian … Wer?“. Die schnelle Recherche ergibt, dass es sich um einen jungen (Jahrgang 1990) argentinischen GM handelt, der schon vor 5 Jahren die 2500 Elo überschritten und seitdem gehalten hat. 2006 wurde er amerikanischer Junior-Meister. Er kann also offensichtlich Schach spielen.
Dann warf ich einen Blick ins Buch und stellte erfreut fest, dass Lemos genau solche Varianten behandelt, die mich aus verschiedenen Gründen seit einiger Zeit sehr interessieren, worüber es aber für den lernwilligen Amateur nichts Brauchbares zu lesen gibt. Leider halte ich dieses Buch ebenfalls nicht für brauchbar.
Auch nach längerem Überlegen war es für mich allerdings nicht einfach, die fehlende Qualität des Buches anschaulich darzustellen. Vielleicht geht es so: Fast alles, was in einem wirklich guten Eröffnungsbuch zu finden ist, fehlt hier:
Es gibt keine systematische Einleitung. Sam Collins liefert in seinem Buch zur Tarrasch Defence eine großartige Vorlage, in der die typischen Bauernstrukturen, Felder- und Figurenschwächen und langfristige Pläne erläutert werden. Lemos liefert nichts dergleichen.
Die Texte sind sachlich geschrieben – Entertainment ist hier nicht vorhanden.
Es gibt auch in den Partien keine ausführliche Beschreibung der typischen Pläne und Strukturen. In einem Eröffnungslehrbuch sollten vorrangig die Pläne in typischen Strukturen erläutert werden, sonst bleibt es bestenfalls ein Nachschlagewerk. Für ein Nachschlagewerk ist dieses Buch aber viel zu unvollständig. Es erinnerte mich sehr an die Eröffnungsbücher aus dem Berliner Sportverlag aus den 80er Jahren – damals gut, für heutige Maßstäbe zu schlecht. Warum? Sehr oft werden in der Phase zwischen dem zehnten und siebzehnten Zug drei bis fünf Züge ohne jeden Kommentar angegeben, um an deren Ende dann eine kurze Erklärung des Autors wie „Weiß steht besser wegen des Läuferpaares“ oder „Weiß steht besser, weil er mehr Platz hat“ oder weil „die schwarze Dame auf d4 zu exponiert steht“ zu finden. Die Zugfolgen wiederum sind dabei meist keineswegs forciert und Bewertungen wie die gerade dargestellten sind wirklich keine besondere schachliche Leistung. Wie eine solche entstandene Stellung prinzipiell zu spielen ist, wäre das interessante Thema! Und der Hinweis, dass man mit einem fianchettierten Läufer auf g2 als Weißer üblicherweise auf dem Damenflügel spielen sollte, reicht mir dafür nicht aus. Es fehlt folglich enorm an Informationsgehalt.
Lemos nimmt in seinen Varianten mehrere Züge auf, die spielbar sind. Er erklärt aber, genau wie auch in den „alten“ Eröffnungsbüchern, nicht, warum andere Züge eher nicht gespielt werden sollten oder mit welchem Zweck ein Zug gespielt wurde.
Man merkt aber irgendwie doch, dass Lemos was vom Spiel versteht. Er konnte mir sein schachliches Stellungsgefühl nur leider nicht vermitteln. Er scheut sich auch nicht, seine eigenen neuen Ideen einzuarbeiten. Das trauen sich nicht besonders viele aktive Spieler. Er macht aber eben nur Zugvorschläge und lässt den Leser dann, wie gesagt, nicht daran teilhaben, wie er die Stellungen denn planmäßig weiter angehen würde. Der Lernwillige wird mit seinen Fragen alleine gelassen. So bleibt das Buch eine nur lückenhaft und unvollständig kommentierte Sammlung von Partien zu einer bestimmten Eröffnungsstruktur (d4, c4, Sf3, g3, Lg2).
Für Amateure unter 2200 Elo gibt es viel zu wenig zu lernen, für Spieler mit höherer Spielstärke gibt es günstigere Methoden, sich weiterzubilden. Ein Titelträger auf der Suche nach einer Lösung für eine Lücke in seinem Eröffnungsrepertoire im zehnten bis fünfzehnten Zug bekommt hier eventuell die eine oder andere Inspiration, mehr aber auch nicht.
Dennis Calder, FIDE Instructor
Juni 2014